Sea Proficiency – ein wichtiger Schritt auf dem
Weg zu neuen Zielen
von Rainer Markgraf
Vom rechtweisenden Kurs zum Falschen mit umgekehrtem
Vorzeichen !? oder wie war das noch? Und dann diese
Leuchtfeuer-Kennungen: was heißt Oc. oder Fl(4)?
Verdammt! Da bin ich schon am Abzweig nach Stollhamm
vorbei gefahren im Grübeln über all die vielen
nautischen Dinge, die ich ja jetzt wissen sollte. Ich
bin inzwischen in Butjadingen, dem Land des harten Lebens
und der Malaria noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts
und fahre gen Fedderwardersiel, wo ich mich mit 4 anderen
Seekajakern der Seebefähigungsprüfung stellen
will.
Aufgeregt bin ich schon, gar nicht mal so sehr wegen
der ganzen Theorie, deren Kenntnis wir vorab schon in
einer ausführlichen schriftlichen Fahrtenplanung
sowie den Antworten auf 50 Prüfungsfragen beweisen
mussten. Wird es vor allem praktisch klappen, die Navigation,
die Bootsbeherrschung, die Fahrt in der Gruppe unter
den kritischen Augen des erfahrenen und strengen Prüfers?
Und da steht Peter auch schon vor mir auf der Camperwiese
für Kanuten und andere Exoten am Ende des Zeltplatzes
von F`Siel und begrüßt mich mit strahlendem
Gesicht. Mit solch guter Laune wird´s wohl klappen,
beruhige ich mich. Auch die anderen Paddler sind schon
eingetroffen. Wie immer auf diesen Treffen (liegt es
an der Anziehungskraft des Seekajakfahrens, an der Vielfältigkeit
der Herauforderungen?) trifft man anregende, vielseitig
interessierte Kameraden, was schon allein ein solches
Treffen wert ist. Ich freue mich, meinen Padddlerfreund
und Bollerwagen-Produzenten Jan zu sehen, ich wusste
gar nicht, dass er sich auch prüfen lassen will.
Da ist Andreas, der Cellist und Profi-Konzertmusiker
aus Berlin (kann er sich Blasen an den Händen erlauben?),
Lothar, der Bildhauer aus Fulda, Jens unser holländischer
Migrant und elektronisch versierter Ingenieur. Da gibt
es auch jenseits des gemeinsamen Sports viel Interessantes
zu erzählen.
Der erste Nachmittag ist noch einmal der Theorie
gewidmet, es erfolgt eine ausführliche Besprechung
der abgegebenen Fahrtenplanung und der Prüfungsfragen.
Man lernt nie aus, aber alle haben überwiegend
die kleinen beruhigenden Häkchens hinter ihren Antworten.
„So, und jetzt macht mal eine Kreuzpeilung unserer Position
mit Hilfe der sichtbaren Seezeichen“ lässt Peter
verlauten. Gut, dass ich mir noch eine aus dem Internet
gezogene Fotoserie der Leuchttürme eingeschweißt
habe (was Peter durchaus anerkennend bemerkt). Klappt
ganz gut, die Position kann sich selbst mit GPS-Kontrolle
sehen lassen. Der Nachmittag endet mit dem Packen der
Boote für eine Gepäckfahrt, dann geht es nach
sorgfältiger Besprechung des Seewetterberichtes
einschließlich Zeichnen der Wetterkarte, Essen
und abschließendem Bier zeitig zu Bett, da wir
am nächsten Morgen früh los müssen, um
mit ablaufendem Wasser paddeln zu können.
Nach Frühstück, Zeltabbau und restlichem
Packen und Trimmen des Bootes geht es durch den berüchtigten
Fedderwarder Schlick ans Wasser. Windstärke 4-5
aus Südost, günstig zumindest für den
geplanten Weg gen Leuchtturm Hohe Weg, im Tagesverlauf
aber bis 6 zunehmend. Jeder muss unter den kritischen
Blicken unseres Prüfers die Gruppe führen
und navigieren.
Dabei treten natürlich so manche Mängel
zu Tage. Zum Test der Reaktion des Führenden müssen
wir absichtlich zurück bleiben: Wird er richtig
reagieren, ständig auf den Zusammenhalt achten
und aufmerksam sein, ob einer von uns ein Problem hat?
Jetzt bin ich dran, wir haben die Kaiser Balje schon
passiert. Steuerbord vor uns Langlütjennordsteert,
da soll ich die Gruppe doch bitte hin führen. Zwischen
Fahrwasser und Leuchtturm liegt ein Wattrücken,
kommen wir da jetzt 3 Stunden nach Hochwasser noch rüber?
Wie war das noch mit der Zwölferregel? Ist die
Gruppe noch zusammen? Ich glaube, ich werde etwas nervös!
„Ist das ein guter Kurs?“ höre ich die durchaus
streng formulierte Frage. „Äh, ich bin mir nicht
sicher, ob wir noch über den Wattrücken kommen.“
„Ist das ein guter Kurs?“ höre ich erneut. Verdammich!
„Nein, das ist kein guter Kurs, wir sind mitten im Fahrwasser,
was es auf kürzestem Wege im rechten Winkel zu
queren gilt, und erst dann kannst du in Ruhe über
deinen Wattrücken nachdenken!“ Oh Mann, da habe
ich wohl echt Mist gebaut. Also schnell allen den Kurs
mitgeteilt und dann die Linie der roten Backbordtonnen
passiert und an den Rand des Fahrwassers gepaddelt.
Pause am Leuchtturm, der Wind frischt auf, Bft. 5-6.
Über Handy wird noch mal der aktuelle Wetterbericht
abgefragt: Gewitterböen bis Bft. 8. Wollen wir
an unserem Plan zum Hohe Weg und Übernachtung dort
festhalten? Wir müssen entscheiden, Teil der Prüfung,
Peter hält sich raus. Wir alle trauern zwar dem
Plan einer abenteuerlichen Leuchtturm-Übernachtung
nach, stimmen aber überein: bei dieser Vorhersage
besser nicht! Wohlwollendes Nicken bei Peter.
Vom Leuchtturm geht es weiter zur F1 des Fedderwarder
Priels (zum Glück muss jetzt Jens führen).
Sind alle fit? Dann mal rein ins Wasser und die Rettungstechniken
vorgeführt: Seiteneinstieg, V-Einstieg, Boote lenzen,
Einzelschlepp, Huskie-Schlepp. „Ich habe mir die Schulter
ausgekugelt!“ jammert unser Prüfer plötzlich.
Damit kenne ich mich ja eigentlich aus, aber hier im
Boot? Also, Arm in der Schwimmweste fixiert und kurze
Leine zum kontrollierten Schleppen des nicht mehr Paddelfähigen.
Klappt ja doch ganz gut.
Navigationsübung: Dürfen wir dort auf der
Sandbank anlegen? Kreuzpeilung beim Geschaukel unter
Bft. 5, jetzt sicher kein guter Vergleich mehr zum GPS.
Ich denke wir dürfen. Ätsch, doch nicht exakt
genug gepeilt, die anvisierte Wattkante gehört
schon ins Vogelschutzgebiet. Ich hoffe langsam, die
Minuspunkte häufen sich nicht zu sehr!
Nach kurzer Pause geht es auf Südkurs, ziemlich
genau gegen Bft. 6 inzwischen, ganz schön anstrengend
mit den steilen Wellen bei Wind gegen Strom. Ich werde
das Gefühl nicht los, dass unsere Paddeltechnik
sehr genau beobachtet wird!
Wie sieht es denn mit der Rolle aus? Da sind wir
doch ganz erleichtert, dass sie bei jedem klappt. Ich
will noch mal links rum, meine schwächere Seite.
Sofort kommt der führende Lothar zurück: Alles
klar? Bitte bleib in der Gruppe! Gut reagiert, signalisiert
des Prüfers Miene zu Lothar.
Inzwischen haben wir den Abzweig zum Mittelpriel
erreicht. Hier stehen ganz nette Wellen, so dass gesurft
werden darf, sicher nicht nur zum Vergnügen. Es
klappt bei allen gut, scheint es, keine Kenterung, Peter
mal da und mal dort, immer um uns herum mit kritischem
Blick. So langsam sind wir auch ziemlich erschöpft,
für diesen Prüfungstag ist es genug. Nach
knapp 18 sm, die Hälfte davon gegen den Wind, steigen
wir doch recht erschöpft aus den Booten. Der Abend
im Biergarten des Zeltplatzes wird somit nur kurz, ich
bin froh, schließlich in meinem Schlafsack zu
liegen.
Am nächsten Vormittag geht es in den kleinen
Seglerhafen, Peter mit Video-Kamera auf dem Bootssteg,
um unsere Paddeltechnik zu filmen für die spätere
Analyse. Schon während unserer „Vorführungen“
habe ich ein ungutes Gefühl, nicht zu unrecht.
Nach allen Paddelschlägen (Bogenschlag, Bugruder,
Heckruder, hohe und flache Stütze, Ziehschlag usw.)
zieht sich Peter zur kurzen Filmanalyse zurück,
um bald mit ernster Miene wieder aufzutauchen: Da wurde
ja jede Variante von Mängeln vorgeführt! Also,
Peter führt im Boot noch mal vor, jeder muss in
allen Details noch mal ran, so langsam wird es besser
und er scheint diesen Prüfungsteil (mit leichtem
Zähneknirschen) zu akzeptieren.
Am Nachmittag entsteht bei auflaufendem Wasser dann
die tolle Schwallwelle in der Einfahrt des Seglerhafens,
Gelegenheit für ein kleines Wildwasser-Training
im Seekajak (freiwillig und kein Prüfungsteil).
Also Helme auf und los, Peter macht das Ein- und Ausschwingen
aus dem Kehrwasser vor, wir wie die Entlein hinterher.
Es klappt prima und macht großen Spaß: wieder
eine tolle Erfahrung mehr!
So langsam geht der Nachmittag zur Neige, Ende der
Prüfung, morgen dann Abschlussbesprechung. Hoffentlich
hat es geklappt.
Inzwischen ist der Wind abgeflaut und Peter steht
plötzlich vor uns: Plan geändert, wir machen
eine Nachtfahrt, 21.00 Uhr am Wasser. Also schnell gegessen,
Boote und Beleuchtung vorbereitet und Route geplant.
Es soll zum ersten Leuchttonnen-Paar gehen, aber exakt
dem Fedderwarder Priel folgend. Also erst mal Kurs 330
Grad
für 15 Minuten, dann 30 Grad für 10 Minuten usw.
Schließlich ist es soweit, sternenklarer Himmel,
der Mond aber noch nicht aufgegangen, also nur schemenhafte
Sicht. Nummern werden verteilt für´s Durchzählen
auf Vollständigkeit. Jan führt, er hat einen
beleuchteten Kompass. Bei nördlichen Kursen kann
man sich auch sehr gut am Nordstern orientieren. Ich
habe mein GPS an, weil Peter und ich für den Rückweg
die Tracback-Funktion ausprobieren wollen. Es herrscht
eine tolle Atmosphäre: östlich die Lichter
des Bremerhavener Containerhafens, grüne und rote
Leuchtsignale gen Norden, sonst Dunkelheit und Ruhe.
Die Zieltonnen sind anhand ihres Blinkmusters rasch
ausgemacht. Das Meeresleuchten ist phantastisch, mit
jedem Paddelschlag glitzert es wie mit dem Zauberstab
einer Fee in einem Walt Disney Film. Es gilt auf Pricken
aufzupassen, allzu schnell kann man beim Ebbstrom mit
einer kollidieren. Keine falsche Warnung denke ich,
als eine in nur 2 m Entfernung an mir vorüber zu
rauschen scheint! An der Zieltonne angekommen fummeln
Peter und ich eine Weile am GPS-Gerät herum und
denken einen Moment nicht an den Ebbstrom. Wieso zeigt
das Gerät für den Rückweg Südostkurs??
Ach ja, der Strom hat uns ein ganzes Stück von
der Tonne wegtransportiert. Rasch haben wir wieder unseren
Kurs zurück erreicht und unter Beachtung der Kursabweichung
folgen wir unserem Hinweg in die entgegengesetzte Richtung.
Ich bin ein wenig zu GPS orientiert, Peter behält
natürlich die Übersicht: ein Fischkutter ist
im Anmarsch, der wird uns nicht sehen. Also nichts mehr
mit Tracback! Auf kürzestem Weg geht es westwärts
in Ufernähe und dann unter Ausnutzung der Buhnen
dem Ebbstrom ausweichend zurück zum Fedderwarder
Schlick, immerhin mit GPS genau an den Startpunkt. Das
war ein toller Abschluss unserer Prüfung!
Am nächsten Morgen dann die „Urteilsverkündung“:
alle haben bestanden. Uff, und dass trotz unserer Mängel!
Ich habe mich natürlich gefragt, ob wir zu gut
weggekommen sind bei den ja doch erkennbaren Fehlern
in verschiedenen Bereichen (Navigation, Paddeltechnik).
Nach Peters abschließendem Kommentar und meiner
eigenen Nachbewertung der Prüfung bin ich aber
doch selbstbewusst genug, mich über die bestandene
Prüfung zu freuen. Peter hat uns alle intensiv
beobachtet. Es ging ja nicht darum, alles in jeder Situation
richtig zu machen, sondern insgesamt zu zeigen, den
Bedingungen einer Seekajak-Tour gerecht werden zu können,
ohne sich selbst oder andere ins Unglück zu stürzen.
Dabei ist es Peter gelungen, der gesamten Unternehmung
einen allzu strengen Prüfungscharakter zu nehmen,
um auch ein gemeinsames Tourenerlebnis zu ermöglichen.
Die praktischen Prüfungsbedingungen waren ja insgesamt
nicht unbedingt einfach und ich denke wirklich, dass
sich alle Teilnehmer "tapfer" geschlagen haben.
Die Prüfung ist eben eine (wichtige!) Etappe auf
der weiteren Entwicklung. Um es (als Bergsportler mit
Hinwendung zum Wassersport) mit dem österreichischen
Bergsteiger Hermann Buhl zu sagen (und das meine ich
nicht pathetisch - und ist auch nicht ganz wörtlich
zitiert): Jede Prüfung ist nur Vorbereitung auf
die nächste schwierigere Herausforderung.
Text u. Photos : Rainer Markgraf |